Kurzvortrag bei der Jungverbindung
Manessia Turicensis
Zur
Pflege sinnvoller Rituale
AH Erich Gerber v/o Chire
20. Mai 2014
Liebe junge Couleurbrüder
Wir geben uns die Hand.
Wir geben einander die Hand. Weiss jemand, was dieses Handgeben ursprünglich für eine Bedeutung -
was es für einen tieferen Sinn hatte?
Mit der offenen Hand (sogar beim Winken!) zeigen wir dem Gegenüber, dass wir keine Waffe tragen, also nichts Böses gegen ihn im Schilde führen. Wenn der andere
dasselbe tut, sind wir uns gegenseitig friedlich gesinnt. Dies entspricht einem uralten Brauch - er ist längst zum Ritual geworden.
Wenn Ihr junge Manessen Euch begrüsst, tut Ihr das auf Eure eigene Weise
- das hab ich bei der heutigen Zusammenkunft mit regem Interesse beobachtet.
Das Händeschütteln ist ein in vielen westlichen Ländern gängiges nonverbales Begrüßungsritual. In anderen
Kulturen ist es hingegen traditionell unüblich oder auf gleichgeschlechtliche Kontakte - insbesondere unter Männern - beschränkt. Andere Länder – andere Sitten!
Ein Handschlag kann aber
noch viel mehr bedeuten: In der Schweiz ist es möglich, einen rechtsgültigen Vertrag ohne schriftliche Form per Handschlag zu schließen.
Rituale spielen von jeher eine große Rolle im
menschlichen Zusammenleben.
Es gab und gibt wohl keine Gemeinschaft von Menschen, die man als völlig frei von Ritualen bezeichnen könnte. Was aber genau sind Rituale, warum spielen sie für
uns eine so große Rolle? Das möchte ich Euch mit diesem Kurzvortrag aufzeigen.
Unter einem Ritual verstehen Fachleute eine festgelegte Abfolge von Handlungen. Diese werden oft an einem bestimmten Zeitpunkt
und an einem bestimmten Ort ausgeführt. Anfang und Ende sind definiert. Der Ablauf ist meist sehr ähnlich, vorausseh- und wiederholbar.
Rituale haben also eine Art gesetzgebende Funktion: sie bestimmen die
Grenzen und ordnen unser Handeln.
Was ist der Unterschied zwischen Ritual und Gewohnheit?
Im Gegensatz zu gewohnheitsmässigen Handlungen muss ein
Ritual immer einen symbolischen Charakter haben. Es steht meist im Zusammenhang mit einer wichtigen Situation, zum Beispiel mit einer Veränderung. Ausserdem muss ein förmlicher Beschluss gegeben sein.
Rituale
sind niemals willkürlich und spontan, sondern werden immer bewusst und mit Absicht durchgeführt.
Rituale sind immer auf eine Gemeinschaft bezogen und haben eine subjektive Wirkung auf die einzelnen Teilnehmer:
Das Ganze kann ein Erlebnis werden, an das sich die Beteiligten später wieder erinnern.
Wenn unsere Zusammenkünfte beginnen, wissen wir schon zum voraus, wie sie voraussichtlich ablaufen werden.
Rituale können Sinn stiften:
In einer gegebenen Situation wissen wir, was wir zu tun haben, z.B. an Weihnachten beim Schmücken des Tannenbaumes, beim Vorlesen
der Weihnachtsgeschichte, beim Singen weihnächtlicher Lieder, beim Austauschen der Geschenke und beim festlichen Essen.
Auch in der Politik gibt es Rituale:
Dass neuen Regierungschefs heutzutage eine Schonfrist von 100 Tagen eingeräumt wird, geht ursprünglich auf J.F. Kennedy zurück und wird seither allgemein so gehandhabt.
Wenn sich unsere Bundesräte
zum Beispiel während ihrer Sitzung in einer bestimmten Reihenfolge per Sie samt offiziellem Titel ansprechen – und erst nachher wieder zum vertraulichen Du zurückkehren. Auch die „Schulreise“ des gesamten Bundesrates in die Region
des Bundespräsidenten gehört zu den bekannten Ritualen.
Jeder, der einmal Militärdienst geleistet hat, erinnert sich bestimmt an das Fassen seiner persönlichen Waffe (über
der Schweizerfahne), an den Fahnenmarsch oder das Hauptverlesen. Er weiss auch, wie er einen Vorgesetzten zu grüssen hat.
Rituale gibt es wohl überall, wo Menschen regelmässig zusammenkommen und bestimmte
Bräuche pflegen, auch im Sport, wenn sich vor Länderspielen die Mannschaften präsentieren, die Zuschauer sich zum Anhören der Landeshymnen erheben und sich die Mannschaften nachher in einem kleinen Ring auf „Sieg“
beschwören.
Ein Ritual soll etwas zum Ausdruck bringen. Rituale sind jedoch nur wirksam, wenn die Inhalte verständlich sind. Wenn sie ihren Sinn verloren haben (wie z.B. bei der sinnlosen
Knallerei am 1. August), oder uns einer Massensuggestion auszuliefern drohen, müssen wir uns dagegen wehren.
Rituale dürfen aber nie Selbstzweck werden.
Um zu vermeiden, dass der Comment - besonders der Biercomment! - allenfalls eine Art Hauptsubstanz unserer Verbindung sind, versuche ich Euch nach besten Kräften zu helfen, aus der Redekunst ein Hauptthema der Verbindung
zu machen.
Wie steht es mit unseren studentischen Ritualen?
Im Jahr 1952 war ich während meines Studium an der Phil.hist.Fakultät der Uni Bern
aktiv an der Neugründung der Jungverbindung unserer Kartellverbindung Halleriana Bernensis beteiligt. Füxe und einen Biercomment kannten wir am Anfang nicht. Alle waren von Anfang an gleich berechtigt.
Und
noch heute - d.h. nach 62 Jahren! - würde ich in keine Studentenverbindung eintreten - und das auch niemandem empfehlen - wo der Biercomment Hauptsache wäre…
Das wäre für mich - und wohl
auch für viele andere - reiner Zeitverlust.
Später - von 1977 bis 1979 - war ich Präsident des Altherrenverbandes der Halleriana Bernensis. Gegenwärtig bin ich X unseres Landesteilverbandes Zürich-Ostschweiz
mit 58 Mitgliedern – das alles, ohne dass ich jemals ein sogenannter „Fux“ gewesen bin!
Ueber alles, was den sogenannten COMMENT betrifft, weiss ich also (noch) zu wenig Bescheid…da brauche
ich Eure Hilfe…
Aus Erfahrung und Ueberzeugung weiss ich aber, was in einer Verbindung besonders wichtig ist.
Ein Couleurbruder soll in seiner
Verbindung ein besonderes Gemeinschaftsgefühl erleben. Ältere Farbenbrüder helfen ihm, sein Studium schnell und gut abzuschließen und geben Hilfe beim Einstieg ins Berufsleben und in Notlagen. Er wird Teil eines lebenslangen Netzwerkes
von guten Freunden.
Ziel aller Verbindungen ist es, die Persönlichkeit ihrer Mitglieder zu entwickeln und zu stärken.
Meine Absicht: „AMICITIA MANESSIA“
Gestützt auf die positiven, praktischen Erfahrungen, die Eure/unsere Jungverbindung seit mehreren Semestern auf dem Gebiet der Redekunst
macht, möchte ich vorschlagen, dass wir sie zu einem neuen studentischen Netzwerk für Dialogik und Redekunst an der Uni Zürich ausbauen. Daraus könnte später ein Studienprogramm für Bachelor und Master entstehen, das heute
noch fehlt.
Was meint Ihr dazu?
Schluss