Katja Gentinetta
Politische Philosophin
Persönliche Vorbemerkung
Ich engagiere mich gerne als Aktivsenior, wurde gerade 87, zähle mich ebenfalls zu den "Fitten Alten", bin Mitglied
der BDP Stadt Zürich, und erkläre mich mit dieser profilierten Meinung von Frau Katja Gentinetta in der heutigen Ausgabe der NZZ am Sonntag voll und ganz einverstanden.
Auch aus Gründen der Demographie
ist das Rentenalter für beide Geschlechter zu erhöhen und sukzessive der Lebenserwartung anzupassen, bei gleichzeitiger, bereits vorgelegter Kompensation für Benachteiligungen bei Teilzeitbeschäftigung und Familienpause, von denen vor allem
Frauen betroffen sind. Liebe Politiker, bitte setzt dieses zweckmässige Programm bald um!
Erich Gerber
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NZZ vom Sonntag,
27. Januar 2019
GELD UND GEIST
Reform der Altersvorsorge: Das Rentenalter muss steigen – für beide Geschlechter
Das derzeit höchste Rentenalter liegt bei 70 Jahren – in Finnland. Das wäre auch in der Schweiz möglich. Denn was spricht eigentlich dagegen, das Rentenalter für beide Geschlechter zu erhöhen
und es sukzessive der Lebenserwartung anzupassen?
Reformstau in der Schweizer Altersvorsorge. Zumindest ist eine Erhöhung des Rentenalters nicht mehr per se tabu.
Rund eine Generation, genauer: 24 Jahre, ist es her, seit die Schweiz zum letzten Mal Ja gesagt hat zu einer Rentenreform. Seither bewegt sich nichts mehr. Die 11. AHV-Revision wurde 2004 vom Volk abgelehnt, der zweite
Versuch strandete bereits im Parlament. Die Grossvorlage, welche die erste und zweite Säule zusammen reformieren wollte - nachdem die Einzelvorlagen durchfielen -, scheiterte im September 2017 in einer Volksabstimmung.
Dutzende von Flexibilisierungsmechanismen wurden gerechnet und geprüft; zahlreiche kleinere, aber wichtige Anpassungen, etwa für Teilzeitbeschäftigte, vorgeschlagen, auch Finanzspritzen angeboten - aber nichts ist passiert.
Derzeit höchstes Rentenalter bei 70 Jahren
Dabei sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Das Umlagedefizit steigt seit Jahren; für 2018 wird mit 1,5 Milliarden Franken
gerechnet. Die Börse, die schlechte Ergebnisse bisher mehr oder minder ausgleichen konnte, dürfte einen Verlust von 1 Milliarde bescheren. Allein die Börse ist nicht das Problem der AHV - es ist die Demografie. Die Menschen werden älter,
die Geburtenrate sinkt. Dennoch bewegt sich in Sachen Rentenalter nichts.
Das derzeit höchste Rentenalter liegt bei 70 Jahren - in Finnland. Es gilt für alle, die nach 1961 geboren sind. Das Land passt
das Rentenalter gestaffelt nach Jahrgangsgruppen an und erhöht es entsprechend der steigenden Lebenserwartung um bis zu zwei Monate jährlich.
In den Niederlanden gilt ab 2021 das Rentenalter 67, und es
wird fortan ebenfalls jährlich an die Lebenserwartung angepasst. Angekündigt erhält man das eigene Pensionsalter jeweils fünf Jahre im Voraus. Auch Dänemark erhöht das Rentenalter bis 2030 sukzessive auf 68. Ausserdem verbietet
es Arbeitsverträge mit fixem Rentenalter.
Der Versuch hierzulande, zunächst das Frauenrentenalter auf 65 anzuheben, bevor weitere Erhöhungen ins Auge gefasst werden, ist mehrmals gescheitert. Die
Gleichstellung, die hier aus grundsätzlichen Gründen hergestellt werden soll, wird freilich nicht überall so dezidiert verlangt.
Namentlich Gegnerinnen führen die nach wie vor «unerklärbaren»
Lohndifferenzen ins Feld (Erklärungen dafür gibt es schon, nur sind sie schwer zu rechtfertigen). Abgesehen davon, dass Lohnungleichheit nicht durch Altersvorsorge kompensiert werden kann und soll, zeigt die Voto-Analyse der Abstimmung von 2017,
dass dieses Argument für den Entscheid an der Urne auch für Frauen nicht ausschlaggebend war.
Der Eindruck, dieses Problem sei willkommen, um sich nicht bewegen zu müssen, ist nicht ganz von der Hand
zu weisen. Ähnlich wie bei der Sozialhilfe hat auch der Schlagabtausch in der Altersvorsorge einen rituellen Charakter erreicht.
Während die Gegner von Rentenaltererhöhungen davon ausgehen, dass jede
Reform auf dem Buckel der Schwächeren ausgetragen werde und das Geld für die Umverteilung ja vorhanden sei, stellen sich die Befürworter auf den Standpunkt, dass angesichts der gestiegenen Lebenserwartung das Rentenalter zwingend zu erhöhen
sei, höhere Lohnabgaben jedoch nicht verkraftbar wären.
Erstere blenden dabei systematisch die gestiegene Lebenserwartung aus sowie die Tatsache, dass die «neuen Alten» gesünder, fitter
und grösstenteils auch wohlhabender sind. Letztere übersehen geflissentlich, dass immer mehr Menschen über 50 aus dem Arbeitsmarkt entlassen werden und teilweise in der Sozialhilfe landen.
Rentenalter
erhöhen bei Frauen und Männer?
Die Argumente neutralisieren sich zuverlässig gegenseitig. Man kann sich getrost auf den Standpunkt stellen, dass eine Reform, welche auch immer, ohnehin keine
Chancen hat. Und wie bereits bei der IV seelenruhig auf ein Defizit von 10 Milliarden zusteuern. Aber das ist keine Politik.
Unabhängig davon, ob im Mai dem «Kuhhandel» von Unternehmenssteuerreform
und AHV-Zustupf zugestimmt wird oder nicht: Die Schweiz wird um eine Reform der AHV, die der demografischen Entwicklung Rechnung trägt, nicht herumkommen.
Das letzte Mal gelang sie 1995 mit einer Kombination
von Rentenaltererhöhung für Frauen und Splitting. Was spricht eigentlich dagegen, das Rentenalter für beide Geschlechter zu erhöhen und es sukzessive der Lebenserwartung anzupassen - bei gleichzeitiger, bereits vorgelegter Kompensation
für Benachteiligungen bei Teilzeitbeschäftigung und Familienpause, von denen vor allem Frauen betroffen sind?
Immerhin - dies zeigen zwei repräsentative Umfragen im Auftrag des Kantons Thurgau und
der Credit Suisse - ist eine Erhöhung des Rentenalters nicht mehr per se tabu, und die grösste ungenutzte Arbeitsbereitschaft ist bei den 66-74-Jährigen (!) auszumachen. Auch das dürften sich die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft
zu Gemüte führen.
Katja Gentinetta,
politische Philosophin,
ist tätig als Publizistin, Referentin, Lehrbeauftragte.