Frau Raffaela Cigolla
Leiterin AZ Herzogenmühle
Erich Gerber, 230
Frau
Raffaela Cigolla
Leiterin Alterszentrum Herzogenmühle
8051
Zürich
Zürich, 8. Juni 2020
«No meh rede mitenand!»
Vorschläge:
Was können wir tun, um noch besser miteinander zu reden und uns noch besser kennenzulernen?
Sehr
geehrte, liebe Frau Cigolla
Am letzten Männerstamm vom 11. Mai habe ich aus meiner bisherigen Erfahrung zwei Vorschläge präsentiert und den Obmann Heinz Engeli
gebeten, diese Ihnen zu unterbreiten. Sie fanden beim Stamm guten Anklang. Da ich von dort nichts mehr darüber gehört habe, wende ich mich
jetzt direkt an Sie, allenfalls auch zuhanden unserer zentralen Direktorin, Frau Rosann Waldvogel, wenn einzelne Vorschläge allgemein zum Zuge kommen könnten.
Es geht um die weitere Stärkung unseres Gemeinschaftsgefühls durch mehr persönliche Kommunikation.
Wie Sie wissen und es selber handhaben, sind alleinstehende, ältere Menschen zur
Stärkung ihres Lebensmutes besonders auf eine gute persönliche Kommunikation mit andern Menschen angewiesen. Damit meine ich nicht nur die Pflege, die bei uns sehr gut arbeitet, sondern uns alle, die hier miteinander leben.
Unser Männerstamm ist sich einig, dass unsere «Herzogenmühle» zu den besten unserer 23 städtischen Zentren gehört. Meine Frau und ich sind jetzt schon seit 8 Monaten dabei und fühlen uns hier wie zuhause, fast wie
in einem Ferienhotel, weil alles für uns getan wird.
«Mir möchte niene anders sy.»
Das Allerwichtigste und Beste, was wir hier erleben, geniessen und deshalb sehr schätzen, ist die HERZLICHKEIT zwischen allen Menschen, die hier wirken und leben, vom ersten bis zum letzten Moment jeden Tages.
Ja, unser Alterszentrum funktioniert sehr gut.
Besten Dank allen Verantwortlichen! Ich bedauere ein wenig, dass wichtige offizielle Informationen vor allem schriftlich erfolgen.
Entscheidend ist Ihre souveräne, kompetente und jederzeit gut an-sprechbare Leitung, sehr geehrte, liebe Frau Cigolla.
Wesentliche Punkte sind ferner unsere
Lage beim Zentrum von Schwamendingen mit wichtigen Einrichtungen (auch des Verkehrs); die Busstation vor dem Haus; unser eigenes Glück (das wir ebenfalls Ihnen und Ihrem Team verdanken), dieses 2-Zimmer-Appartment zu beziehen und zusammen mit unseren
Jungen wohnlich einzurichten; das hervorragende, gesunde Essen (mit Wahlmöglichkeiten und öfterem Nachservice); die sehr gute, persönliche Bedienung; der perfekte Wäschedienst; die tüchtige Wohnungsreinigung; der sehr gute, persönliche
Pflegedienst; alle MitarbeiterInnen sind gut lesbar angeschrieben; schliesslich das breite Angebot an Programmen und Kontaktmöglichkeiten. So weit, so gut!
Ich habe aber den Eindruck, dass viele Mitbewohnende
(MB) einander bloss vom "Luege" kennen, ohne deren Namen zu wissen. Das lässt sich mit der Zeit verbessern.
Meine
Vorschläge zu «No meh rede mitenand»
1. Vor wenigen Tagen ist zum Beispiel Albert Tall neu eingetreten.
Im Lift wurde sein Eintritt namentlich angeschlagen.Ich schlage vor, dass auf diesem Blatt auch seine Foto gezeigt wird, damit wir diesen neuen Mitbewohner im Haus sofort erkennen, wenn
wir ihm begegnen. Albert Tall ist damit einverstanden.
So werden neue MB rascher bekannt.
2. Wenn sie damit einverstanden sind, tragen neue MB während einem Monat ein Namensschild, auf dem ihr Vorname «auf Abstand»
deutlich erkennbar ist. Albert Tall ist mit einem solchen Namensschild einverstanden.
3. MB, die noch mehr mit andern Kontakt bekommen
und reden möchten, können ebenfalls ein Namensschild erhalten und zeitweise tragen. Damit zeigen sie ihre Bereitschaft und ihr Interesse an zwischenmenschlichen Kontakten. «Lueget, mir
chönne jitz mitenand rede, I mache das gärn.»
4. Schaffung eines «Kontakttisches» im Speisesaal, wo man
sich mit normalem Menü hinsetzen kann, wenn man während einer bestimmten Zeit andere MB beim gemeinsamen Essen persönlich kennenlernen möchte und nicht immer mit den gleichen zusammensitzen will. Das kann der Service wunschgemäss organisieren.
(Diese Möglichkeit wird von Ihnen bereits geprüft.)
Regelmässige Wechsel im Speisesaal sind meines Erachtens erwünscht.
5. Schaffung eines oder mehrerer «Grüezi-Tische» im Freien (vor dem Kafi), wo man wie bisher gegen Bezahlung etwas konsumieren kann oder gratis Brunnenwasser trinken kann. Frau Barbara Oetiker hat kürzlich solche Tische zusammengestellt.
Ich nenne diesen grossen grauen Tisch gerne meinen «Stamm-tisch» und freue mich, dass immer mehr BewohnerInnen daran Platz
nehmen und miteinander reden (z.B. Paula).
Diese «Grüezi-Tische» werden über Nacht nicht abgeschlossen.
Wer Lust hat, kann auch abends
dort zusammensitzen (ohne Konsumationspflicht).
6. Zur Hauptsache schlage ich die Bildung einer gut durchmischten kleinen Diskussionsgruppe vor, die
sich zuhanden des Bewohnerrates mit Organisations- und Programmfragen befasst. Ich wäre gerne bereit, dabei mitzuwirken. Diese gute Idee stammt von Frau Ines Aubert, der Tochter von Frau Martha Aubert, die seit 22. März bei uns ist (als unsere Abgeschlossenheit gegen aussen begann).
Mit solchen Massnahmen, die wir
eine Zeitlang zusammen aus-probieren, wird unser Zentrum bestimmt wertvolle Erfahrungen und Fortschritte in der persönlichen Kommunikation machen.
Mein erster persönlicher
Kontakt im Lift
An unserem ersten Tag hier im Zentrum (am 10. Oktober 2019) hatte ich um etwa 10 Uhr im Lift den ersten persönlichen Kontakt mit einer «Insassin», wie man früher despektierlich sagte. Eine ältere
Frau stand da, gestützt auf ihren Rollator.
«Grüessech! I bi dr Erich Gerber. Wie heisse Dir?».
«I bi d’Maria Friedli.»
«Wie lang sit Dir scho hie?»
«18 Jahr, die erste acht zäme mit min Ma.»
Wenn ich ein Namensschild getragen
hätte, hätte sie im Lift sofort gewusst, dass ich ein Neuer bin und «Erich» heisse.
Dieses kurze Gespräch im Lift hat Frau Friedli offenbar viel bedeutet. Später hat sie ihren Weihnachtsstall vor dem Lift im 2. Stock auf einem kleinen Tisch (wie seit 18 Jahren) mit ihrem Sohn neu eingerichtet.
«I ha das wieder
gmacht, will Dir mi denn im Lift so nätt agredet heit». Das hat mich besonders gefreut! Drum schlage ich solche Schildchen für Neue vor: So chönnte mir lehre rede mitenand!
Da ich andere MB gerne anrede und mich mit ihnen unterhalte, fällt mir wie gesagt auf, dass sich viele MB noch zu wenig kennen und deshalb noch zu wenig miteinander
reden.
Vielleicht haben sie kein Interesse, keine Lust am Reden oder leiden an einem schlechten Gedächtnis.
Ich selber habe auch Mühe, Namen zu behalten...
Franz, den ich am Stammtisch danach befragt habe, hat in seinen 10 Jahren kaum jemanden
persönlich kennengelernt – auch nicht im grossen Speisesaal. Andere Männer wie zum Beispiel Paul, scheinen ebenso wenig andere Mitbewohner näher zu kennen und sind deshalb oft alleine zu sehen. Ich habe den Eindruck,
dass sich manche MB namentlich noch zu wenig gut kennen.
Kritische Fragen zu Corona 2
Wegen der vielen gegenwärtigen sehr strengen
Coronaverbote zeigen sich allgemein kritische Punkte, die von den Behörden in Zukunft sachlich behandelt und noch besser gelöst werden müssen als bisher.
Haben
alte «Risiko-Menschen» weniger Rechte als andere Menschen?
Was ist wichtiger für uns: Wie lange wir noch leben oder wie gut wir noch leben (Lebensdauer und Lebensqualität)?
Hören
und reden wir in unserem Zentrum genügend über den Rest unseres Lebens, über den Tod und wie man damit umgeht?
Genügen die kurzen Andachten, wenn sie wieder möglich sind?
Zur
Information: Weiterer Stoff
Gegenwärtig leben in unserem Zentrum 68 Frauen und 11 Männer. Die älteste Frau ist 105 Jahre alt. Unsere «Herzogenmühle» verfügt
über eine eigene Pflegeabteilung. Betreuung und Pflege erfolgen um die Uhr. Menschen mit Demenz werden nicht aufgenommen. Wer aufgenommen wird, kann bis zum Lebensende bleiben. 53 Prozent der Bewohnenden sind allerdings auf Ergänzungsleistungen angewiesen.
Das Gesundheits- und Umweltdepartement von Stadtrat Andreas Hauri betreut insgesamt 23 städtische Alterszentren, in denen gegenwärtig rund 2'000 ältere Menschen leben. In einer persönlichen
Befragung von 2019 haben sich 58 % dieser Bewohner sehr zufrieden und 35% zufrieden mit ihrem Leben im Zentrum erklärt. Bei uns dürfte das noch besser sein.
Der Kanton Zürich zählt insgesamt
340 Heime mit 16'000 Bewoh-nenden. Das Durchschnittsalter beträgt dort 85 Jahre.
(Bei uns könnte dieser Wert bei 91 Jahren liegen.)
In
einer kürzlichen Fernsehsendung über Probleme betagter Menschen war zu erfahren, dass in der Schweiz gegenwärtig rund 150'000 Menschen in Alterseinrichtungen leben.
Ein bekannter Jurist hat
dazu sehr kritisch bemerkt, der Bundesrat habe kürzlich 40 Milliarden für die Wirtschaft investiert, aber bisher noch keinen einzigen Franken für die «Alten».
Die gegenwärtige Coronasituation
dieser 150’000 Menschen hat er dann mit den 8'000 Gefangenen verglichen, die es in der Schweiz insgesamt gibt und anscheinend mehr Rechte haben.
Ich meine: Es geht hier nicht nur um juristische, sondern
vor allem um gesellschaftliche Probleme.
Grundsätzliche kritische Fragen
Wegen der vielen gegenwärtigen Coronaverbote
stellen sich Fragen, die für den Fall einer zweiten Welle von den hiefür zuständigen Behörden noch besser geregelt werden müssen als bisher:
Haben alte Menschen weniger Rechte
als andere Bürger unseres Landes?
Diese «ALTEN» scheinen intern oder öffentlich nicht zu reklamieren. Befürchten sie negative Folgen?
Müssen wir Alte bloss lernen, alt zu werden?
Ist es akzeptabel, diesen Drittel unserer gesamten Bevölkerung so lange als «RISIKO-PERSONAL» zu disqualifizieren?
Ich habe dieses Problem selber erlitten: Mein Hausarzt wollte mich deshalb nicht kommen lassen. Sogar der Rotkreuzfahrdienst durfte mich als «Risikoperson» nicht zum Hausarzt in Wallisellen transportieren…
Das gibt mir bis heute schwer zu denken…
In diesem weiteren Zusammenhang: Hören, lesen, diskutieren und lernen wir bei uns genügend über den
Rest unseres Lebens und über den Tod?
«Miteinander reden ist besser als Medizin.»
Diesen wirklich treffenden Leitsatz
habe ich auf einem «maskierten» Spaziergang mit der charmanten Pflegerin Sadiku mitbekommen. Weil er mich überzeugt, mache ich ihn gerne zum Schlusssatz dieser Arbeit.
Erich Gerber
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Antwort von Frau Raffaela Cigolla
9.6.2020
Guten
Tag Herr Gerber
Herzlichen Dank für Ihr aktives Mitdenken und die guten Rück-meldungen. Ich bedaure es sehr, dass wir aufgrund der Corona-Pandemie in unserer Arbeit und vor allem in bezug auf die Stärkung
des Gemeinschaftsgefühls unter den Bewohnenden so stark zurückgebunden sind und wurden, dass wir im Moment nicht immer können, wie wir wollen. Der Kennenlerntisch und weitere Themen sind ja immer noch pendent. Ich schaue mir Ihre Vorschläge
gerne an und schaue, was bald und was eventuell später umgesetzt werden kann. Es muss ja immer kompatibel mit den aktuellen Corona-spezifischen Vorgaben sein.
Ich freue mich auf einen Austausch mit Ihnen und
möchte Ihnen auch danken, dass Sie sich persönlich um Gemeinschaftsinn und Neuein-tretende kümmern. Das Wegfallen von Veranstaltungen und einen ungezwungenen Umgang mit Besuchern und Mitbewohnenden hat uns in den letzten Monaten vor neue Herausforderungen
gestellt. Auch ich nehme wahr, dass es viel länger dauert, bis sich Neue zurechtfinden und dazugehören. Es sind aber engagierte Mitbewohnende, die am Meisten dazu beitragen können, dass sich Neueintretende schnell wohl und zu Hause fühlen.
In den nächsten 2 Wochen werde 3 neue Mitbewohnende einziehen und ich bin sehr dankbar für Ihre Unterstützung.
Freundliche Grüsse
Raffaela Cigolla
Leiterin Alterszentrum
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Betreff:
Vorschläge für die Kommunikation unter uns Mitbewohnenden
9.6.2020
Sehr geehrte, liebe Frau Cigolla
Aus Dankbarkeit, dass Sie uns vor 8 Monaten
hier so gut aufgenommen haben und Freude, dass wir uns hier wie zuhause fühlen, schicke ich Ihnen gerne einige Ideen zur Kommunikation unter uns Mitbewohnenden.
Mit bestem Dank für Ihr Verständnis und freundlichen Herzogenmühle-Grüssen
Erich Gerber
Schluss