Interview mit Prof. Dr. François Höpflinger

Prof. Dr. François Höpflinger

«Selbstverantwortung im  hohen Lebensalter
ist Teil der Generationensolidarität»

Interview mit Prof. Dr. François Höpflinger
zu Altersbetreuung  und Alterspolitik

Fragen von Bernhard Stricker, Redaktor Defacto:

Ab welchem Alter sprechen wir in der Schweiz von «den Alten»? 
Gibt es eine verbindliche Definition?

Mit der Einführung der AHV wurde der Beginn des Alters auf 65
f
estgesetzt und bis heute gehören demografisch betrachtet alle Frauen und Männer über 64 Jahren zur «Altersbevölkerung». Individuell erachten sich allerdings zunehmend mehr Frauen und Männer dann als «alt», wenn sie aufgrund funktionaler Beschwerden im Alltagsleben merkbare Einschränkungen erfahren.

Seit wann gibt es den Begriff der «Alterspolitik»?
Und was versteht man darunter?

Heute wird unter Alterspolitik eine umfassende Querschnittspolitik verstanden, in der es darum geht, einerseits die Ressourcen älterer Menschen einzubringen und andererseits soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Menschen möglichst lange gesund verbleiben und bei Bedarf auf gute medizinisch-pflegerische Versorgungsstrukturen zurückgreifen können.

Wie unterscheidet sich die Generation der heutigen «Alten» von früheren Generationen?

Die heute älter werdenden Frauen und Männer – vor allem Personen der Nachkriegsjahrgänge – verbleiben insgesamt länger gesund, sind sozial oft sehr gut integriert und aktiver als frühere Generationen. In den wirtschaftlichen Wachstumsjahrzehnten aufgewachsen, verfügen sie öfters über gute wirtschaftliche Ressourcen und eine Mehrheit der heutigen 65- bis 69-Jährigen verfügt beispielsweise über Wohneigentum. Sie schätzen sich zudem subjektiv jünger ein, als es ihrem biologischen Alter entspricht, und der Anteil der 65- bis 74-Jährigen, die sich selbst als innovativ und kreativ einschätzen, ist gleich hoch wie bei den 25- bis 34-Jährigen.

Im Jahr 2030 wird jede vierte Person in der Schweiz über 65 Jahre alt sein. Sind wir Ihrer Meinung nach in der Schweiz grundsätzlich genügend auf eine älter werdende Gesellschaft vorbereitet?

Grundsätzlich gehört die Schweiz von ihrer Wirtschaftsstruktur zu den Ländern, welche von der demografischen Alterung Europas bzw. der Welt durchaus profitieren könnte, weil die Schweiz viele Produktionszweige – Pharmaindustrie, Medizinaltechnik, Robotik,  Finanz- und Versicherungsbereich u. a. – aufweist, in denen die Nachfrage demografisch bedingt ansteigt. Armut im Alter ist in der Schweiz weniger häufig als in anderen europäischen Ländern und auch die Pflegequalität im Alter ist im Vergleich zu anderen Ländern hoch. Politisch sind jedoch Anpassungen notwendig, wie eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit, die Verankerung einer Bildungspolitik 50+ und eine vermehrte Ausbildung von Pflegefachkräften.
Zentral für eine gute Vorbereitung auf die zukünftige demografische Entwicklung ist ein Ausbau der Gesundheitsförderung. Internationale Studien weisen darauf hin, dass Gesundheitsförderung zur Ausdehnung der gesunden, behinderungsfreien Lebenserwartung eine zentrale Grundlage zur Bewältigung der sich anbahnenden demografischen Herausforderungen darstellt.

Ist die Altersbetreuung Ihrer Meinung nach grundsätzlich eine private oder eine öffentliche Aufgabe?

Pflege und Betreuung alter Menschen funktioniert am besten, wenn private Verantwortung und öffentliche Unterstützung zusammen funktionieren. Ein europäischer Vergleich belegt, dass in Ländern mit ausgebauten öffentlichen Pflegediensten insgesamt mehr Angehörige bei der Hilfe und Pflege alter Menschen engagiert sind. Generell zeigen Wohlfahrtsstudien, dass Länder, die gute sozialpolitische Strukturen mit privaten und wettbewerbsorientierten Angeboten kombinieren, die höchste Lebensqualität aufweisen – dies gilt für junge Familien ebenso wie für alte Menschen.

Was halten Sie von der Erhöhung des Rentenalters, damit die Altersvorsorge auch in Zukunft finanziert und damit gesichert werden kann?

Persönlich erachte ich es mittelfristig als notwendige Reform, auch wenn sie gegenwärtig keine politische Mehrheit findet. Am besten erachte ich den Vorschlag, das Rentenalter von Frauen und Männer parallel zur Ausdehnung der Lebenserwartung zu erhöhen, wobei für Personen in körperlich oder psychisch  anstrengenden Berufen gezielte Begleitmassnahmen – wie Erholungsphasen – eingeführt werden. Eine Ausdehnung der Lebensarbeitszeit setzt allerdings diverse Anpassungen während des Berufslebens voraus, wie zum Beispiel nicht-lineare Karrieremodelle, permanente Weiterbildung, Möglichkeiten eines Berufswechsels auch in späteren Erwerbsphasen, keine Altersdiskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt u. a. Die Erwerbsjahre müssen im Sinne eines «Langstreckenlaufs» gestaltet werden und nicht im Sinne eines kurzen Sprints. Langfristig wird entscheidend sein, einen grundlegenden Wechsel von einem Nacheinander von Ausbildung, Erwerbszeit, Rentenjahre zu einem Nebeneinander von Bildung, Arbeit, Ruhephasen zu erreichen, das heisst: lebenslanges Lernen, lebenslang aktiv, aber auch lebenslang genügend Ruhephasen.

Eine älter werdende Gesellschaft führt zu einem Ungleichgewicht zwischen Jungen und Alten bezüglich Aufgaben und Finanzierung. Muss das Verhältnis zwischen Alten und Jungen neu geregelt werden (evtl. gesetzlich)?

Das steigende politische Gewicht älterer Stimmbürger und Stimm-bürgerinnen könnte dadurch korrigiert werden, dass man ein Stimm-recht ab Geburt einführt, das in den ersten 14 Lebensjahren von den Eltern ausgeübt wird. Eine zentrale Säule für eine gute Bewältigung der demografischen Entwicklung ist im Übrigen eine ausgebaute Bildungspolitik: Gut ausgebildete junge Menschen haben höhere Löhne, was sich positiv auf die AHV-Kassen auswirkt, sie bleiben zudem länger gesund und länger leistungsfähig. Wie neue Studien aufweisen, sinkt bei guter Bildung auch das Risiko, im Alter an Demenz zu erkranken. Bildungs- und Alterspolitik sind gezielt als Gesamtwerk zur Bewältigung der demografischen Entwicklung zu konzipieren.

Wie gut ist die Wohnsituation von alten Menschen heute? Sind Alters- und Pflegeheime die Lösung? Oder gäbe es bessere Lösungen (z. B. Ausbau Spitex)?

In der Schweiz ist die Wohnzufriedenheit alter Menschen sehr hoch. Zudem beklagen mehr ältere Menschen eine zu grosse als eine zu kleine Wohnung! Die Qualität der Pflege in Alters- und Pflege-einrichtungen ist – international betrachtet – in der Schweiz hoch. Auffallend ist allerdings, dass in der Schweiz mehr alte Menschen stationär gepflegt und betreut werden als in unseren Nachbarländern. Eine verstärkte Verlagerung auf ambulante Pflege – etwa durch den Ausbau betreuter Wohnformen – ist angebracht und in vielen Regionen im Gang. Das Schlagwort «ambulant vor stationär» greift allerdings gerade im hohen Lebensalter oder bei merkbaren kognitiven Einschränkungen zu kurz. Die ideale Zukunft liegt eher in Formen einer integrierten Versorgung (die durch Palliative Care auch ein würdiges Lebensende garantiert).

Was bedeutet für Sie Selbstverantwortung im Alter?

Alle in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Studien belegen, wie stark Alterungsprozesse durch eigenverantwortliches Verhalten – dazu gehören ausgewogene Ernährung, genügend Bewegung, regelmässiges Gedächtnistraining, Pflege sozialer Kontakte – bestimmt werden. Wer sein Altern aktiv und eigenverantwortlich angeht, kann von einer deutlich längeren gesunden Lebenserwartung ausgehen, selbst wenn biologisch-genetische Faktoren die Spielräume begrenzen. Neue Ansätze der Generationenforschung verdeutlichen, dass Selbstverantwortung im Alter in demografisch alternden Gesellschaften zu einer zentralen Säule der sogenannten «Genera-tivität des Alters» wird: Denn wer sein Altern selbstverantwortlich gestaltet, entlastet wesentlich auch die nachkommenden Generationen. Selbstverantwortung im hohen Lebensalter ist Teil der Generationensolidarität.

Welches Verhältnis haben Ihrer Erfahrung nach die alten Menschen heute zum Tod – im Vergleich zu früheren Generationen alter Menschen?

Insgesamt scheint es nicht der Fall zu sein, dass der Tod von alten Menschen stärker tabuisiert wird als früher, sondern Mühe bereitet auch alten Menschen vielfach das Sterben. Dies hat auch damit zu tun, dass das Sterben heute auch im hohen Alter primär in medizinischen und soziomedizinischen Einrichtungen geschieht. Bei Menschen im Alter 90+ ist in der Schweiz der Sterbeort in 78 % der Fälle ein Alters- und Pflegeheim, weitere 20 % sterben in einem Spital – und kaum jemand stirbt einfach zu Hause. Der Ethiker Heinz Rüegger formuliert diesen Wandel wie folgt: «War Sterben früher einmal fremdbestimmtes Schicksal, so wird es heute je länger, je mehr und in hohem Masse von den Entscheidungen der Menschen abhängig und damit in die eigene (Mit-)Verantwortung gestellt. Das macht die Sache eindeutig schwieriger.»

EXIT fordert den Altersfreitod. Was halten Sie davon?

Mit dieser Forderung entspricht EXIT einer neu entstehenden Herausforderung in einer Gesellschaft, in der mehr alte Menschen länger leben als eigentlich geplant. Mehr Menschen als früher erreichen ein hohes Alter, das als mühsam oder geplagt von kognitiven Einbussen erfahren wird. Die Forderung nach Altersfreitod kommt postmo-dernen Gefühlen von Lebensmüdigkeit oder auch Lebenssattheit im hohen Alter entgegen. Was bei der Forderung von EXIT auffällt, ist, dass das Alter, ab dem ein Altersfreitod möglich sein sollte, unbestimmt bleibt. Rechtlich lässt sich die Forderung nur verankern, wenn klare Altersgrenzen bestimmt werden, was allerdings mit Verfassungsbe-stimmungen in Konflikt steht, die eine altersbezogene Bevorzugung oder Benachteiligung ausschliessen. Rechtlich – aber auch ethisch – sind noch viele offene Fragen. Persönlich vertrete ich eher den Standpunkt, dass ein Ausbau der palliativen Pflege – inklusive Verzicht auf lebensverlängernde Interventionen – eine bessere Lösung darstellt, wenn auch sicherlich nicht in allen Fällen.

Max Frisch hat einmal geschrieben: «Alt werden ist ein Skandal.» Der Philosoph Prof. Dr. Wilhelm Schmid findet andererseits, dass das Alter zu mehr Gelassenheit und Ruhe führe. Wie sehen Sie das? Ist Altwerden für Sie eher positiv oder negativ konnotiert?

Alter hat ein Janusgesicht und die positiven wie negativen Beschrei-bungen des Alters haben in der Kulturgeschichte eine lange Tradition. Was eine relativ neue Entwicklung darstellt, ist die Beobachtung, dass die positiven und negativen Seiten des Alters in modernen Gesell-schaften sich zeitlich verschoben haben: Bei den sogenannt «jungen Alten» bzw. Personen im dritten Lebensalter werden heute primär die neuen Chancen und Kompetenzen – zum Reisen, zu neuen Aktivitäten usw. – hervorgehoben und betont. Die negativen Bilder zum Altern beziehen sich immer stärker auf das hohe Lebensalter – auf die «alten Alten» bzw. das vierte Lebensalter. Anstelle eines Nebeneinanders von positiv-negativen Bildern zum Alter ergibt sich immer stärker ein Nacheinander.

Gibt es Ihrer Lebenserfahrung nach eine Regel oder eine Formel für «Lebenskunst im Alter»? Wie gelingt «Altwerden» heute am besten?

Gelingendes Altern ist von vielen individuellen Faktoren abhängig und je nach bisherigen Erfahrungen, Persönlichkeit und Werthaltungen von Frauen und Männern gibt es grosse Unterschiede in der Lebenskunst des Alterns. Für eine gute Lebensphase nach der Pensionierung ist es wichtig, genügend ausserberufliche Interessen und Beziehungen zu haben. Bei Paaren wird das Leben im Rentenalter insgesamt erleichtert, wenn eine offene Partnerbeziehung gepflegt wird – und beide Personen genügend Raum für eigene Interessen eingeräumt wird. In manchen Fällen ist auch eine gezielte Anpassung des Lebensstils an ein tieferes Einkommen und die Akzeptanz von Statuseinbussen förderlich. Genügend körperliche Bewegung und geistige Aktivitäten verzögern negative Alterungsprozesse entscheidend. Im sehr hohen Lebensalter – bei ansteigender Fragilität und Hilfebedarf – ist auch ein gelassener Umgang mit Einschränkungen, aber auch ein rechtzeitiger Umzug in eine altersgerechte Wohnform für eine positive Bewältigung des Alters entscheidend. Menschen, die auch im hohen Lebensalter neugierig und offen für jüngere Menschen sind, geniessen allgemein eine bessere Lebensqualität. Was soziale Beziehungen im hohen Alter betrifft, wird die Qualität der Beziehungen wichtiger als die Quantität an Kontakten – und ein gewisser sozialer Rückzug im hohen Alter ist oft eine angemessene Reaktion auf abnehmende  Ressourcen und Kom-petenzen.

Die Fragen stellte Bernhard Stricker, Redaktor Defacto

Prof. Dr. François Höpflinger (geb. 1948) ist emeritierter Titular-professor für Soziologie an der Universität Zürich. Aktuell ist er Mitglied der Leitungsgruppe des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind Altersforschung (Sozialgerontologie), Familiensoziologie, Generationenbeziehungen, Bevölkerungsentwicklung (Demografie). Zu seinen aktuellen Forschungsprojekten gehören Wohnen im Alter, Wandel des Alterns, Sozialbericht 2016. Seit 2013 ist er Ehrenmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie. François Höpflinger ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und Grossvater von vier Enkel-kindern.

Schluss